© Christian Lambiotte

«Glas als gestalterische Komponente» ist besonders für Architekten aus dem Segment Repräsentationsbauten ein wichtiges Modul für die Bereiche Kultur, Politik und Wirtschaft. Glas im Einsatz als konstruktiv tragender Werkstoff enthebt heutzutage immer häufiger Zweckbauten seine Zweckmässigkeit. Historische Beispiele bieten die Gewächshäuser in London (Kew Gardens) oder Brüssel (Laeken) aus dem 19. Jahrhundert: Glasbau auf höchstem Niveau und über 130 Jahre alt. Flaches Glas war zu jener Zeit noch ein kostspieliges Baumaterial. Damals vermittelten diese offenen Gewächshäuser den Bürgern den aktuellen Stand der Technik und gleichzeitig den Reichtum der Auftraggeber. Was diese Beispiele zeigen: Mit Glas gelingt die Kunstfertigkeit, Architektur in die Landschaft zu integrieren, ohne diese zu stören. Glas vergrössert Räume und verbindet das Innen mit dem Aussen.

In Anlehnung an derartige Glasarchitektur zeigt der renommierte Architekt Frank Gehry beim 2014 eröffneten Ausstellungsgebäude der Fondation Louis Vuitton in Paris, wie zeitgemässer Glasbau auf höchstem Niveau umgesetzt werden kann. Eingebettet in viel Grün am Rande des Bois de Boulogne mutet die zwölfteilige Dachkonstruktion wie übereinandergelegte Segel an. Der bekennende Freizeitsegler Gehry hatte die Intention vom Segelschiff unter voller Fahrt.

Keine der 3 600 Einzelscheiben, die sich zu einer Gesamtfläche von 13’300 qm zusammenfügen, gleicht der anderen. Unterschiedliche Biegegrade von plan bis zu 3 Meter Radius bedurften einer beson­deren Verarbeitung.

Auch in sicherheitstechnischen Belangen sollten die verwendeten Baustoffe alle in Frankreich geforderten Auflagen erfüllen. Zum Einsatz kam Verbundsicherheitsglas (VSG) in Kombination mit einer 1.52 mm starken hochsteifen Zwischenlage aus ­SentryGlas® Ionoplastfolie der Kuraray ­Europe GmbH. Als Glas verwendete man sechs und acht Millimeter dicke Scheiben aus vorgespanntem Glas. Das VSG musste mittels modifizierter Biegeöfen und Glasbiegemaschinen frei geformt werden, um die hohen Konstruktionsansprüche zu erfüllen.

Die 6 mm dicke Innenscheibe wurde mit ­einer reflektierenden Beschichtung und ­einem weissen keramischen Siebdruck ­versehen und ist zu 50 % opak. Das ist wichtig, um die wertvollen Musealien vor direkter Sonneneinstrahlung zu schützen. Daneben erzeugt es einen angenehmen, blendfreien Lichteinfall.

Um ein störungsfreies Gesamtbild des einzelnen Segels zu gewährleisten, setzten die Konstrukteure und der Architekt auf eine Klebeverbindung zwischen der Verbundglasstruktur und den Rahmen sowie beim Ausfüllen der breiten Dehnungs­fugen. Hierbei wurden Dichtungsmassen von Dow Corning verwendet.

Das gesamte Bauwerk ist hinsichtlich seiner verwendeten Materialien auf Langlebigkeit und Sicherheit angelegt. Schliesslich wird es erst in 48 Jahren von der Fondation Louis Vuitton in die öffentliche Hand ­übergeben.

Statisch tragendes Glas
Wie das Stiftungsgebäude in Paris zeigt, haben Glasscheiben eine eigene Tragwirkung und können als statische Elemente im konstruktiven Glasbau genutzt werden. Damit wird Flachglas vom Sekundär- zum Primärwerkstoff. Keine störenden Verstrebungen, keine metallischen Lichtreflexe – Glas pur.

Zusätzlich lässt sich die Tragwirkung des Glases verstärken, wie das Beispiel der Louis Vuitton Stiftung ebenfalls verdeutlicht. Nicht nur die Tragfähigkeit, auch die Resttragfähigkeit des Glases nach einem möglichen Glasbruch kann so ermöglicht werden. Mit geeigneten, statisch wirk­samen Folien, lassen sich schon heute Verbundgläser herstellen, die sogar ein Begehen der gebrochenen Scheibe zulassen – bei gleichzeitiger Glasdickenreduzierung von fast 30 Prozent!

Die statischen Eigenschaften der verwendeten Folien, das Schubmodul, werden zukünftig eine wichtigere Rolle bei der statischen Berechnung von Bauteilen spielen. Sie gibt Auskunft über die linear-elastische Verformung, hervorgerufen beispielsweise durch eine Scherkraft.

Konstruktiver Glasbau steht und fällt mit der Befestigungsvariante des Materials an der Tragkonstruktion. Professor Ulrich Knaack von der TU Darmstadt und der Delft University of Technology bringt es auf den Punkt: «Fassadentechnik ist heute High End an der Baustelle.»

Die gebräuchlichste Version ist eine linienförmig gelagerte Verglasung. Horizontale wie vertikale aussen liegende Pfosten-­Riegelkonstruktionen mit innenliegenden Pressleisten und elastischen Auflagerungen z. B. aus Silikon sind die Hauptbestandteile dieser Variante und sorgen für eine schlanke Silhouette.

Bei der punktgelagerten Halterung fixieren Haltebolzen aus Edelstahl die Glasscheibe, Profile entfallen ganz. Dafür muss das Glas durchbohrt werden, wodurch eine hoch konzentrierte Spannung am Bohrloch entsteht. Deswegen kann bei der konventionellen Punkthalterung nur vorgespanntes Glas verwendet werden (ESG, TVG).

Neben der Möglichkeit der Durchbohrung können bei hinterlüfteten Fassaden Klemmhalter an Ecken und Fugen die Scheibe an Ort und Stelle halten.

Ein sogenannter Hinterschnittanker erfüllt die gleichen Aufgaben wie ein durch­gebohrter Punkthalter-Bolzen. Allerdings ist das Bohrloch konisch und nicht durchgängig. Auf der Aussenseite der Glas­fassade entsteht eine komplett glatte Oberfläche, was die Reinigung erleichtert.

Structural Glazing und Composite Glazing
Seit etwa 15 Jahren werden Glasscheiben fest in die Fassade verklebt. Hier haben sich zwei Vorgehensweisen etabliert. Bei beiden Verfahren wird die Scheibe mit einem dauerhaften und witterungsbeständigen Silikonkleber auf die tragende Konstruktion aufgeklebt. Während beim Structural Glazing (SG) die tragende Konstruktion bzw. das Profil aus Materialien wie Alu­minium, Kunststoff oder Holz sein kann, kommt beim Composite Glazing ausschliesslich GFK zum Einsatz.

Ebenso hat sich bei der geklebten Scheibe einiges getan. Wurden früher einzelne ­Gläser scheibenweise mit einer Unterkonstruktion verbunden, ob nun punktgehalten, über Pfosten- und Riegelkonstruktionen oder geklebt, übernimmt heute die Scheibe an sich statische Eigenschaften. Besonders anschaulich ist dies dem deutschen Unternehmen Sedak beim Apple Cube auf der 5th Avenue in New York gelungen. Ein reiner Glaswürfel, bei dem die Glasscheiben die statischen Eigenschaften übernehmen – ohne Rahmenkonstruktion oder störende Pfosten und Riegel. Der Kubus besteht pro Seite aus nur noch drei jeweils fünflagigen Verbundsicherheitsglas-Platten mit schubfesten Ionoplast-Zwischenlagen in den ­Abmessungen 3.3 m x 10.3 m. Die verbindenden Titanfittings wurden erstmalig in das VSG einlaminiert. In Verbindung mit der analog ausgeführten Dachkonstruktion, biegesteif und selbsttragend, ergibt sich eine ebenso transparente wie minimalistische Gebäudehülle aus Glas. Die Scheiben der Dachkonstruktion hat der Glasveredler Sedak übrigens im Laminationsverfahren gebogen, damit Regenwasser leichter ablaufen kann.

Positive Nebenerscheinungen bei konstruktivem Glasbau
Die Entwicklungen der vergangenen Jahre an der Fassade haben weitere Produkte abseits der Fassade hervorgebracht und verändert. So werden Geländerbrüstungen mit statischen Eigenschaften immer beliebter. Ob auf der Aussichtsplattform, dem Dachrestaurant oder der schicken Penthouse-Wohnung: Wichtig ist der ungestörte Blick. Und sicher soll er sein. Neben der Erweiterung der gestalterischen Freiheit des Architekten bietet Glas im Bau noch mehr als nur optische Vorteile. Die vorgeformten und profilierten Glaselemente können massgeschneidert auf der Baustelle angeliefert und verbaut werden. Zugelassene vorgefertigte Glasbaumodule für Glanzglasgeländer werden vor Ort in die Unterkonstruktion eingeklickt, stufenlos justiert und sind sofort «betriebsbereit». Das spart wertvolle Zeit bei der Planung von Grossbaumassnahmen – und oftmals auch Geld.

Voraussetzung dafür sind exakte Vorgaben und sorgfältige Berechnungen seitens des Architektur- und Ingenieurbüros, die es ­ermöglichen, die strengen DIN- und EN-Auflagen seitens der Gesetzgebung im Hinblick auf Sicherheit und Statik zu erfüllen. Und Glashersteller bzw. -Verarbeiter, die über einen modernen Maschinenpark verfügen. Hier ist die Branche in Deutschland gut aufgestellt. Mittelständische Unternehmen nutzen die Gelegenheit und stellen sich mehr und mehr auf anspruchsvolle Nischenprodukte ein.

 «Structural Glazing light» für den Privatkunden
Kein echter konstruktiver Glasbau, aber ein technisch inspirierter Nebeneffekt von Structural Glazing sind heute geklebte Glasscheiben im privaten Wohnungsbau. Immer gefragter sind die schlanken Profile der geklebten Fenster nicht nur im Win­tergarten- oder Terrassenüberdachungs-­Segment. Diese zukunftsweisende Technik mit wenig tragenden Teilen und störender Optik ist ebenso für den privaten Hausbau sehr attraktiv. Heute werden selbst in Bestands­immobilien Fensterausschnitte vergrössert, bodentiefe Scheiben eingesetzt, Gefache in historischen Fachwerkbauten mit Glas gefüllt.

«Der Trend ist klar: Es wird heute viel hochwertiger saniert und neu gebaut als vor einigen Jahren», stellte Martin Langen von B+L Marktdaten auf einer Fachtagung der GKFP bereits vor zwei Jahren fest. Grosse Fensteröffnungen im Mauerwerk sind dank hervorragender thermischer Eigenschaften und dichter Profile möglich.

Der Markt reagiert darauf mit bemerkenswerten Produkten. Klassische Pfosten-Riegelkonstruktionen teilen mit einer ­Ansichtsbreite von 50 mm grossflächige Fenster- und Schiebetürenelemente. Die schlankere Variante von GIP Glazing z. B. kommt mit 15 mm weniger aus. Trotzdem wird ein Wärmekoeffizient von 0.90 W / (m2K) erreicht.

Chance für die Fensterbau-Branche
Geklebte Fenstersysteme durchdringen zunehmend den Markt. Seit 2010 ist der Anteil von 2.9 % auf über 11 % gestiegen. Für die Branche erschliesst sich eine Marktnische, um sich gegen Billiganbieter aus dem Osten einen Vorsprung zu verschaffen. Einige Fensterhersteller haben ihr Programm komplett auf das neue Produkt umgestellt und sich damit ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen. Das geklebte Fenster hat schliesslich einige bemerkenswerte Vorteile aufzubieten.

Gerade bei der Debatte um die vierfache Isolierverglasung wird es die Fensterbauer und Monteure freuen, dass geklebte Fenster mit geeigneten Scheiben in unterschiedlichen Dicken um 20 % weniger Gewicht aufweisen können, als die herkömmlichen Block-Lösungen.

Daneben überzeugt es durch eine wesentlich geringere Wartungsanfälligkeit. Das geklebte Isolierglas zeigt eine höhere Steifigkeit, die Lastabtragung ist besser und die Fenster langlebiger. Hinzu kommen ausserdem kürzere Lieferzeiten, verbesserte Ug-Werte durch einen besseren Isothermenverlauf und gänzlich entfallenden Windeintritt in den Flügel.

Alles zusammengenommen sind das die wichtigen Argumente für den Endkunden, denn geklebte Fenster sind durch geänderte Produktionsverfahren oft keineswegs günstiger.

glasstec 2016
Die glasstec 2016 zeigt im September in Düsseldorf den aktuellen globalen Stand der Technik im konstruktiven Glasbau und liefert damit wichtige Impulse für die globale Glasbranche. Zwei Highlights sind die Sonderschau «glass technology live» mit den Vorträgen im dazugehörigen Symposium und die neue Konferenz «Function meets Glass» am 19. und 20. September 2016.

Weitere Informationen:
www.glasstec.de