bauRUNDSCHAU

Visionen sind erwünscht – Werkschau und Architekturpreise

© Jan Henrik Hansen Architekten

Der Vorwurf steht im Raum, dass Schweizer Architektur langweilig sei. Die Siegerprojekte des Schweizer Architekturpreises Arc-Award 2015 und die architektur0.15, als grösste Werkschau für Architektur der Schweiz in der Schweiz, belegen das Gegenteil.

Wer durch die Agglomeration der Schweiz fährt, erlebt kaum Überraschungen. Die Neubauten gleichen sich oft wie ein Ei dem andern. Die Klötzchenbauten mit den Normgärten strahlen nicht gerade überraschende Momente aus. Um aber die Herausforderungen wie Verdichtung und Siedlungsbrei in innovative Bahnen zu lenken, braucht es immer wieder utopische Anläufe, auch wenn sie nicht gleich realisiert werden können. Die bekannte Architektin Zaha Hadid forderte unlängst die Utopiefähigkeit der Architekten dieser Welt zurück. Die Werkschau architektur0.15 präsentierte solche Utopien. In der Ausstellungshalle verdeutlichten die Modelle und Thesenpapiere Kreativität und Innovationen. So könnten Gedankenbilder entstehen, die auch dem Planer, Architekturkollegen oder dem Investor Fantasiegedanken in seinem beruflichen Arbeitsalltag befruchten.

Wettbewerb und Preise
Der nationale Architekturwettbewerb Arc-Award 2015 war eine Plattform, die über den Mainstream der Architektur hinaus wollte. Er richtete sich an alle Architekten, Planer und Architekturbüros, die innerhalb der letzten drei Jahre in der Schweiz Projekte in den Bereichen Wohnen und / oder Arbeiten realisiert haben. Neu wurde 2015 die Kategorie «Der erste Bau» ins Leben gerufen. In dieser Kategorie erhalten junge Architekturbüros die Chance, von der Jury für ihre ersten Erfolge ausgezeichnet zu werden. Mit 222 eingereichten Projekten schliesst die Ausgabe von 2015 des Arc-Award an den Erfolg der drei Vorgänger an  – wobei zu berücksichtigen ist, dass der Zeitraum, innerhalb dessen die eingereichten Projekte realisiert sein mussten, von bisher fünf auf nunmehr drei Jahre angepasst wurde. Architekturstudierende aus der ganzen Schweiz reichten in diesem Jahr mehr Arbeiten ein als im Vorjahr. 77 Abschluss- und Projektarbeiten in der Kategorie «Arc-Award Next Generation» zeugen von der Vielfalt des Architekturstudiums an Schweizer Universitäten und Hochschulen.

1. Haus mit Baum
Die feinen Nuancen und der Charme des bestehenden Hauses aus den 1930er-Jahren durften nicht verloren gehen. Das Gebäude sollte sanft saniert und anhand einer Reihe von Mikro-Ergänzungen erweitert werden. Das Überraschende dabei. In jedem anderen Umbaufall wäre der Baum gefällt worden. Hier bilden die markante Rotbuche und die neuen Anbauten eine stimmungsvolle Komposition. Weitere Ziele waren es, die Energiebilanz des Hauses zu verbessern und das Haus vorsichtig mit seiner natürlichen und urbanen Umgebung in Verbindung zu setzen. Als Folge dieser Strategie der städtischen Verdichtung blieben drei Viertel der ursprünglichen Fassaden, aber auch das prägende Sattelwalmdach intakt, während das Innere in weiten Teilen in seinem ursprünglichen Zustand belassen werden konnte. An drei Orten kam es zu wesentlichen räumlichen Erweiterungen: Im Norden akzentuiert ein neuer Holz-Eckturm mit einer äusseren Haut aus recycelten Tannenlatten die spezifischen Eigenschaften der Eckparzelle; im Osten ragt neu aus dem Altbau ein massiver Erker, der zwischen der kristallinen Formensprache der Fassadenerneuerung und den modernistischen Bürobauten gegenüber vermittelt; und im Garten im Westen sticht neu eine filigrane Stahl-Loggia mit transparenten Fotovoltaik-Elementen in die Höhe. Balanceartig und proportional angeglichen bilden Alt und Neu, ein gemeinsames Ensemble. Präzis gesetzte Durchbrüche lassen den im Norden liegenden städtischen Park und die Rotbuche zum Teil der inneren Atmosphäre werden. Nicht kritisch rekonstruierend, sondern spielerisch das Alte im Neuen weiterdenkend. So entsteht ein Dialog zwischen beiden Akteuren, der im Sinne einer gegenseitigen Aktivierung auch deren jeweilige Identität bewahrt.

Architektur: Sauter von Moos
www.sautervonmoos.com

2. Hilti-Innovationszentrum
Das Innovationszentrum bildet als vorgelagerter Sockelbau des Firmenareals den Ausgangspunkt für den Weiterentwicklungsprozess der Firma. Das Herz des Gebäudes stellt die hohe, stützenfreie und tagesbelichtete Versuchshalle dar, welche ein grosses optisches und funktionales Beziehungspotenzial schafft und direkte Kontakte zwischen Versuchsanlagen und Projektarbeit auf den Büroebenen ermöglicht. Das Innovationszentrum liegt am Hangfuss des Bergmassivs und wird vom Tal als liegender Sockelbau für das gesamte Firmenareal gelesen. Das Herz der Anlage bildet die zweigeschossige, stützenfreie Versuchshalle, welche sich in der Mitte um ein Geschoss zum sogenannten Auge erhöht und dreiseitig mit Labors und Büroebenen ummantelt ist. Die Halle schafft ein optisches und funktionales Beziehungspotenzial und ermöglicht direkte Kontakte zur konzentrierten Projektarbeit auf den Büroebenen. Sechs Lichthöfe und die durchgehenden Bandfenster führen optimales Tageslicht in alle Arbeits- und Aufenthaltsräume ein und reduzieren den Kunstlichtbedarf erheblich. Durch verschiedene Raumprinzipien, Lichtstimmungen und Materialverbindungen werden differenzierte Orte und Atmosphären für individuelle, konzentrierte Arbeit, für Austausch im Team und für entspannten Aufenthalt erzeugt. Die Primärstruktur besteht aus einem Stützenraster von 6.3 x 6.3  Metern, welcher dem Flächenanspruch von vier Arbeitsplätzen entspricht. Die äussere Erscheinung wird geprägt von der horizontalen Schichtung aus verschieden hohen Brüstungen und verschieden hohen Fensterbändern, welche das umgebende Panorama inszenieren und der gewünschten Flexibilität im Inneren Ausdruck verleihen. Daraus abgeleitet besteht die Fassadenkonstruktion aus 3.15 Meter breiten Fassadenelementen mit gedämmten Brüstungen und einer Verglasung als CCF (Closed Cavity Façade) mit integriertem Rafflamellenstoren. Diese entsprechen bezüglich Technik, Bauphysik und Behaglichkeit dem aktuellsten technologischen Stand. Vor den gedämmten Brüstungen sind u-förmige 6.3 Meter lange, eingefärbte Kunststeinelemente vorgehängt, welche  durch Schleifen die eingestreuten Labradorsteine zum Vorschein bringen. Der tiefe Baukörper ist kompakt ausgebildet. Dank klarer Trag- und Sekundärstruktur (Haustechnik, Trennwände) entsteht innerhalb der Mantelnutzung eine hohe Flexibilität, die den sich stetig wandelnden Projektteams Rechnung trägt.

Architekur: giuliani.hönger dipl. architekten eth bsa sia
www.giulianihoenger.ch

3. Lichtstrasse
Eine der Qualitäten des Wohn- und Industriequartiers St. Johann in Basel ist das enge Nebeneinander von Alt- und Neubauten und die damit verbundene soziale und kulturelle Durchmischung. Dieses Nebeneinander wurde beim Umbau der Ecke Lichtstrasse / Kraftstrasse bewusst beibehalten. Indem zwei der vier Häuser nur sanft renoviert und aufgefrischt wurden, konnte günstiger Wohnraum erhalten werden: Teilweise sind die Mieter innerhalb der Liegenschaft umgezogen. Dazwischen schieben sich die grossräumigeren Wohnungen im Neubau. Die ursprünglich vier Mehrfamilienhäuser mit Baujahr 1902 waren aussen grösstenteils noch in ihrem Original-Zustand und im Laufe der Zeit nur minimal renoviert und modernisiert worden. Zustand, Grösse und Ausbaustandard entsprachen nicht den heutigen Bedürfnissen. So fehlte in einem Grossteil der Wohnungen ein eigenes Bad, ebenso eine zentrale Anlage für Heizung und Warmwasser. Die ehemals drei Häuser entlang der Kraftstrasse wurden weitgehend in ihrer ursprünglichen Form belassen. Das Gebäude an der Lichtstrasse 9 wurde durch einen architektonisch und ökologisch zeitgemässen Neubau ersetzt. Die Kraft-strasse 3 wurde sanft saniert und durch Bäder in den Wohnungen ergänzt. Im Innenhof verbindet ein neues zentrales Treppenhaus mit Liftanlage die drei Gebäude an der Ecke. Die Treppe führt entlang der alten Fassade, deren Fenster zur Belichtung der sonst einseitig orientierten Wohnungen beibehalten wurden. Die bestehenden Treppenhäuser wurden abgerissen und die frei gewordene Fläche den Altbauwohnungen zugeschlagen. So konnte die Attraktivität der verbleibenden Altbauten gesteigert und der Bestand und die Vermietbarkeit längerfristig garantiert werden.

Architektur: HHF Architekten
www.hhf.ch