Die europäische Moderne trifft auf indische Realitäten: Balkrishna Doshi, Architekturbüro Sangath, Ahmedabad, 1980. ( Iwan Baan 2018 )

Der berühmte Architekt und Stadtplaner Balkrishna Doshi – in Pune in Indien geboren – hat 2018 als erster Inder den renommierten Pritzker-Preis erhalten. In über 60 Jahren architektonischer Praxis hat Doshi eine Vielzahl unterschiedlichster Projekte verwirklicht. Dabei übernahm er die Grundsätze der modernen europäischen Architektur nicht einfach, sondern brachte sie mit den lokalen Traditionen und den kulturellen, materiellen und natürlichen Gegebenheiten vor Ort in Einklang. Das Vitra Design Museum präsentiert aktuell die erste Retrospektive über das Gesamtwerk.

Es ist immer wieder interessant, wenn die westliche Moderne auf anderen Kontinenten gespiegelt und neu bearbeitet wird. Das war beispielsweise 1922 in Kalkutta so, als die europäische Moderne auf die indische Avantgarde traf. Erstmals wurden damals auf dem Subkontinent Werke namhafter Bauhauskünstler neben indischen Arbeiten ausgestellt. Die gegenseitigen Inspirationen waren und sind beeindruckend. Man kann dies an unterschiedlichen Bauwerken in Indien festmachen.

Zwei künstlerische Welten trafen damals aufeinander. Die europäische Kunst, ge
prägt von den Katastrophenerfahrungen des Ersten Weltkrieges, war auf der Suche nach gestalterischen Alternativen. Und die indische Kunst der postkolonialen Phase auf der Suche nach einer neuen, kulturellen Identität. Es ging um zwei Welten, die gemeinsame Sprachen fanden. Der Kubismus war hier ein Beispiel. Die multikulturellen Reibungen waren produktiv.

Die Aufbruchphase
In diesen Zeitrahmen fiel die Geburt von Balkrishna Doshi, der – 1927 als Sohn einer traditionellen hinduistischen Familie geboren wurde. Solche Traditionen traten Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts in den Hintergrund. Doshi wuchs in der Aufbruchstimmung der indischen Unabhängigkeitsbewegung auf, zu deren Leitfiguren Mahatma Gandhi und Rabindranath Tagore zählten. Zu den spiritistischen Leitfiguren zählte sicher auch Sri Aurobindo. Im Jahr der indischen Unabhängigkeit 1947 begann er sein Architekturstudium am Sir J. J. College of Architecture Bombay (heute Mumbai). In den 1950er-Jahren reiste er mit dem Schiff nach London, wo er sich um die Aufnahme in das Royal Institute of British Architects bewerben wollte, und zog schliesslich nach Paris weiter, um bei Le Corbusier zu arbeiten. Doshis Zusammenarbeit mit Le Corbusier und später Louis Kahn erstreckte sich über ein ganzes Jahrzehnt und machte den jungen Architekten mit dem Vokabular der architektonischen Moderne mit besonderem Schwerpunkt auf elementaren Formen und Baumaterialien vertraut. Sein 1956 in Ahmedabad eröffnetes Architekturbüro nannte Doshi Vastu-Shilpa: «Vastu» beschreibt die Gesamtheit der Umwelt; «shilpa» bedeutet auf Sanskrit «gestalten». Im Alter von nur 41 Jahren gründete er 1962 die School of Architecture am Centre for Environmental Planning and Technology (CEPT) in Ahmedabad. Die Vastushilpa Foundation for Studies and Research in Environmental Design rief Balkrishna Doshi 1976 mit dem Ziel ins Leben, an die Gesellschaft, Kultur und Umwelt Indiens angepasste Gestaltungs- und Planungsnormen zu entwickeln.

Über die Vorbilder hinaus
Die Ausstellung im Vitra zeigt zahlreiche bedeutende Projekte aus der Zeit von 1958
bis 2014, wobei das Spektrum von der Planung ganzer Städte und Siedlungen bis hin zu Hochschulen und Kultureinrichtungen sowie Regierungs- und Verwaltungsgebäuden, von Privathäusern bis hin zu Wohninterieurs reicht. Zu Doshis Werken gehören Pionierleistungen wie das Indian Institute of Management (1977, 1992), sein eigenes Architekturbüro Sangath (1980) und die berühmte Wohnsiedlung Aranya für Menschen mit geringem Einkommen (1989). Neben einer Fülle originaler Zeichnungen, Modellen und Kunstwerken aus Doshis Archiv und Architekturbüro werden Fotos, Filmmaterial und mehrere begehbare Rauminstallationen gezeigt, wobei seine enge Beziehung zu anderen einflussreichen Architekten und Vordenkern wie Le Corbusier oder Christopher Alexander immer wieder deutlich wird. Doshis humanistische Haltung ist durch seine indischen Wurzeln ebenso geprägt wie durch seine westliche Bildung und den rapiden Wandel der indischen Gesellschaft seit den frühen 1950erJahren. Seine poetische und zugleich funktionale Architektursprache ist beeindruckend. Doshi ging jedoch in seiner Formsprache über seine Vorbilder der Moderne hinaus und entwickelte eine ganz eigene Herangehensweise zwischen Industrialismus und Primitivismus, moderner Architektur und traditioneller Form. Seine Praxis beruht auf einer nachhaltigen Herangehensweise und strebt nach der Verortung der Architektur in einem weit gefassten Zusammenhang von Kultur, Umwelt, Gesellschaft, Ethik und Religion.

Dialog fördern
Die Retrospektive ist in vier Themenbereiche gegliedert und beginnt mit einem Blick auf Doshis Hochschulgebäude. Als eines seiner Schlüsselprojekte gilt der Campus des Centre for Environmental Planning and Technology (CEPT) in Ahmedabad, auf dem Doshi über einen Zeitraum von 40 Jahren einige seiner bedeutendsten Bauwerke realisierte. Bereits 1968 gründete Doshi die multidisziplinäre School of Architecture, die sehr von seinem Ansatz des Austausches über die Fächergrenzen hinweg profitiert. Um den Dialog zwischen Studenten und Lehrkräften zu fördern, entwarf er das Gebäude als frei fliessenden Raum ohne strenge Trennung der verschiedenen Bereiche. Während die School of Architecture auf den Überresten einer alten Ziegelei gebaut wurde und mit ihrem offenen Erdgeschoss über dem Boden zu schweben scheint, liegt der ebenfalls auf dem Campus befindliche Kunstraum Amdavad Ni Gufa (1994) teilweise unter der Erde als Antwort auf das heisse örtliche Klima – «gufa» bedeutet auf Gujarati «Höhle». Seine sich sanft in die Umgebung einfügende Struktur aus unterschiedlich grossen Kuppeln wurde zwar mit speziellen Computerprogrammen entwickelt, jedoch von ungelernten Arbeitern von Hand aus Abfallprodukten gebaut. Dies ist ein typisches Spiegelbild der zerrissenen Gesellschaft in Indien.

Heimat und Identität
Der zweite Ausstellungsbereich richtet das Augenmerk auf die Themen Heimat und Identität, wobei Architektur auch als Motor des gesellschaftlichen Wandels in den Blick genommen wird. Inspiriert von Mahatma Gandhis Lehren entwickelte Doshi neue Herangehensweisen an den sozialen und experimentellen Wohnbau, die auf der Teilhabe der zukünftigen Bewohner basierten und die Möglichkeit der Anpassung an wechselnde Bedürfnisse und Anforderungen einbezogen. Die Wohnsiedlung für die Life Insurance Corporation of India (LIC) (1973) oder die Wohnsiedlung Aranya (1989) in Indore sind herausragende Beispiele dafür.

Beitrag zur Entwicklung
Im dritten Bereich dreht sich alles um die zahlreichen institutionellen Bauprojekte, an denen Doshi in den vergangenen 60 Jahren mitgewirkt hat. Ein wichtiges Beispiel ist hier das Indian Institute of Management (IIM) in Bangalore (1977, 1992). Der ausgedehnte Campus entstand über einen Zeitraum von 20 Jahren, in dem der ursprüngliche Entwurf mehrfach ergänzt und verändert wurde. Die Innenhöfe sind als Gärten angelegt, in die begrünten Korridore fällt durch Pergolen und Durchbrüche natürliches Licht, sodass sich der Raumeindruck im Tagesverlauf immer wieder ändert. Beide dienen der spontanen Kommunikation und bilden zugleich eine Erweiterung der Unterrichtsräume. Mit seinem faszinierenden Architekturkonzept ist das Indian Institute of Management zu einer wichtigen Denkfabrik geworden, die im Lauf der Jahrzehnte einen beachtlichen Beitrag zu Indiens wirtschaftlichem Aufstieg geleistet hat. Ein weiterer Meilenstein in Balkrishna Doshis institutioneller Architektur ist sein eigenes Architekturbüro Sangath in Ahmedabad (1980). Erinnerungen an das Haus seiner Kindheit und an Le Corbusiers Atelier in Paris werden im Raumvokabular dieses Gebäudes vereint. «Sangath» bedeutet auf Gujarati so viel wie «sich zusammen bewegen», hier arbeiten drei Generationen von Doshis Familie Seite an Seite.

Der letzte Bereich der Ausstellung widmet sich Doshis gross angelegten Stadtplanungsprojekten, für die beispielhaft die Entwicklung des Masterplans und der städtebaulichen Vorgaben für Vidhyadhar Nagar (1984) im nordindischen Rajasthan steht. Die Wohnsiedlung mit 15’000 Wohnungen wurde als energieeffiziente Stadt auf 350 Hektar Land am Rande von Jaipur konzipiert, dessen von einer Stadtmauer umschlossene Altstadt als Vorbild diente. Die Planung verbindet traditionelle städtebauliche Prinzipien mit aktuellen Bedürfnissen und äusseren Rahmenbedingungen, um die nötige Infrastruktur für 400’000 Einwohner bereitzustellen.

www.design-museum.de