Die Architektur- und Designphilosophie ist sehr aktuell.

Der Stil von Richard Neutra mit seinen grossen Fensterflächen und an die Umgebung der kalifornischen Trockengebiete angepassten Architektursprache feiert eine Renaissance. Das ist kein Wunder: Leichtigkeit und Transparenz sind heute wieder Trends. Nun sind im Wien Museum MUSA in Wien vom 13. Februar bis 20. September 2020 einige Werk zu bewundern.

Richard Neutra (1892–1970) war der international erfolgreichste österreichische Architekt des 20. Jahrhunderts – und trotzdem ist sein Werk in Europa kaum bekannt. Denn der Grossteil seiner rund 300 Bauten steht in seiner zweiten Heimat Kalifornien, wo er seit den 1920erJahren lebte. Hier wurde er zum Begründer einer genuin amerikanischen Moderne, deren Wurzeln zum Teil in Österreich und Wien zu suchen sind. Neutras Bauten transportieren zunächst die österreichische Moderne nach Kalifornien. Otto Wagner und Alfred Loos heissen die Vorbilder. Das reicht aber noch nicht aus, um 1949 auf den Titel des «Time»-Magazins zu kommen. Wo liegen die Gründe dafür? Neutra war begeistert von der hoch entwickelten industriellen Fertigung der USA – dem Fordismus mit seiner Fliessbandproduktion, der tayloristischen Arbeitszerlegung und auch dem Massenkonsum, der dadurch ermöglicht wurde. Zudem beschäftigte sich Neutra aber auch mit Physiologie, Psychologie und Verhaltensforschung – das Ziel war anspruchsvoll: eine neue humanistische Architektur. Neutras Bauten zeichnen sich durch offene Grundrisse, leichte Konstruktionen und eine enge Beziehung zur umgebenden Landschaft aus, sie folgen einem strengen System und sind zugleich auf individuelle Wohnbedürfnisse zugeschnitten. Die Transparenz
ermöglicht ineinandergreifende Raumfolgen, die miteinander in Kommunikation stehen – so scheint es jedenfalls. Man kann den Begriff Membran einführen. Seine Häuser wirken so hingestellt, als hätten sie sich in der Landschaft schlafen gelegt. Und das alles wirkt sehr offen, manchmal sogar verletzlich. In den USA, wo die Frontier-Tradition mit den vielen Zäunen und Mauern gerade aktuell wieder eine Renaissance erlebt, ist das fast schon ein politisches Statement. 50 Jahre nach Neutras Tod nähert sich das Wien Museum dem Werk und dem Wirken des Architekten auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Aktuelle Fotografien von David Schreyer zeigen neun exemplarische Wohnhäuser Neutras, die nicht nur kalifornische Wohnkultur vermitteln, sondern durch ihre Raumökonomie, gestalterische Qualität und Funktionalität auch heute noch vorbildlich sind. Ergänzend dazu wird auf einer historischen Achse Neutras wechselhafte Beziehung zu seiner Heimatstadt Wien nachgespürt.

Von der Provinz in die Moderne
Richard Neutra wurde 1892 als Sohn einer jüdischen Wiener Familie geboren. Bald nach Beginn seines Studiums an der Technischen Hochschule wurde er in die private Bauschule von Adolf Loos aufgenommen. Loos, der stets voller Begeisterung von seinem Aufenthalt in Amerika berichtete, war es auch, der in Neutra den Wunsch erweckte, einmal selbst in die USA zu reisen, um dort neuartige Bautechniken, aber auch das Werk von Frank Lloyd Wright zu studieren, dessen revolutionäre Bauten in Wien durch Reproduktionen bekannt waren. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs machte diese Pläne jedoch zunichte, Neutra wurde an die Front nach Bosnien-Herzegowina geschickt. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie gab es für junge Architekten in Wien kaum Arbeitsmöglichkeiten. Österreich war nach dem Ersten Weltkrieg zu eng geworden. Über Zürich, wo er für den Landschaftsplaner Gustav Ammann tätig war und während dieser Zeit seine künftige Frau Dione kennenlernte, und Berlin, wo er im Atelier von Erich Mendelsohn arbeitete, gelang Neutra schliesslich 1923 die ersehnte Ausreise in die Vereinigten Staaten von Amerika.

Die potenziale von Imigranten
Ab 1925 lebten die Neutras in Los Angeles, zunächst bei dem Otto-Wagner-Schüler Rudolph Schindler, der seit 1914 in den USA ansässig war. In den folgenden Jahren konnten die beiden Wiener Emigranten eine Reihe von Wohnhäusern errichten, die heute zu den bedeutendsten Bauten der kalifornischen Moderne zählen. In ihnen zeigt sich die Wiener Prägung durch Wagner und Loos ebenso wie das Interesse an der lokalen Baukultur der Pueblo-Indianer und innovativen Bautechniken und Materialien. Aus diesen vielfältigen Einflüssen entstand eine genuin amerikanische, von den historischen europäischen Stilen unabhängige Architektur. Mit dem Lovell Health House wurde Richard Neutra 1929 international bekannt und erhielt in Folge zahlreiche Bauaufträge. In Österreich dagegen konnte Neutra nur ein Haus verwirklichen – das kleine Einfamilienhaus in der Wiener Werkbundsiedlung wurde 1932 fertiggestellt.

Vorreiter der sozialen und ökologischen Wohnens
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Neutras Einfamilienhäuser zu Modellen für das neue Wohnen der Mittelschicht: Die offenen Grundrisse brachten neue Wohnbedürfnisse zum Ausdruck und machten durch innovative, leichte Konstruktionen eine maximale Öffnung zur umgebenden Landschaft möglich. Der Mensch, so Neutra, sollte möglichst «naturnah» leben. Die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner wurden mittels Fragebögen erhoben. Standardisierung, Präfabrikation und billige Baumaterialien sollten diese Architektur allgemein erschwinglich machen. Auch in seinen einflussreichen Büchern hatte Neutra stets die grossen sozialen Fragen im Blick. Heute gelten Neutras Häuser als Luxusimmobilien, während er selbst im Schaffen von leistbarem Wohnraum und einer gesellschaftlich relevanten Architektur ein wesentliches Ziel seiner Arbeit sah. Das wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA auch gewürdigt. Das Zeitalter der massiven Klimaanlagen setzte aber seinem Wirken Grenzen. Heute, im Zeichen des Klimawandels, sehen wir wieder die Vorteile der Transparenz, die Durchlüftungsstrategien ermöglichen. Die leichten, transparenten und standardisierten Bauten von Neutra sind Gegenmodelle zu den abgeschotteten Würfelkisten unserer Tage. Klar können im Innenraum keine Schrankwände aufgestellt werden, die Panzerschiffen gleichen. Es dominieren Lesecken mit farbenfrohen Sesseln und Sofas oder flache Bücherboards. Es herrscht ein unaufgeregter nüchterner Stil vor – genau der, der heute gefragt ist.

Die Architekrurfotografien von David Schreyder
Von den rund 300 Bauten, die Neutra in einer fast 50-jährigen Bautätigkeit realisieren konnte, steht der Grossteil in Kalifornien. Aus diesem riesigen Pool wählten die Kuratoren neun Häuser aus, die im Detail dokumentiert wurden. Zeitlich parallel zu ausführlichen Gesprächen, die Andreas Nierhaus mit den heutigen Bewohnerinnen und Bewohnern führte, entstanden die Fotografien von David Schreyer. Sie zeigen die Häuser in ihrem heutigen Zustand und ihrer aktuellen Nutzung – es sind keine aufgeräumten Hochglanzbilder, sondern präzise Analysen der alltäglichen Wirklichkeit dieser Bauten. Die Fotografien können auch als Antwort auf die bekannten Schwarz-Weiss-Auf nahmen Julius Shulmans verstanden werden, die bis heute die Wahrnehmung von Neutras Bauten prägen. David Schreyer zeigt die Häuser nicht als überhöhte Kunstwerke, sondern als ästhetische hochwertige Gebrauchsobjekte.
Die in der Ausstellung präsentierten Häuser entstanden in einem Zeitraum von 30 Jahren, von 1936 bis 1966. Räumlich liegt der Schwerpunkt auf Los Angeles und dem Stadtviertel Silver Lake, wo bis heute zahlreiche Bauten Neutras wie auch sein eigenes Wohnhaus zu finden sind. Exkursionen führen in die noble Nachbarstadt Pasadena, in die Oase von Palm Springs und die Mondlandschaft von Lone Pine. Die Häuser zeigen die ganze Bandbreite von Neutras Können im Einfamilienhausbau und vermitteln sein stringentes architektonisches System, das zugleich grosse Vielfalt und individuelle Abwechslung möglich macht. Viele der Häuser Neutras, ehemals häufig für die Mittelschicht konzipiert, sind mittlerweile Luxusobjekte und gleichzeitig nicht selten vom Abbruch bedroht, denn die rasant steigenden Grundstückspreise in Los Angeles machen die verhältnismässig kleinen Bauten für die Immobilienwirtschaft unrentabel. Das ist die aktuelle Schattenseite, die dem Architekten und Gesellschaftsvisionär Richard Neutra sicher nicht gefallen hätte.

www.wienmuseum.at