Dr. Urs Wiederkehr ist Dipl. Bau-Ing. ETH / SIA und Leiter des Fachbereichs «Digitale Prozesse» der Geschäftsstelle des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA.

Nachhaltigkeit ist nichts Neues. Die deutsche Historikerin Annette Kehnel beschreibt in ihrem Buch «Wir konnten auch anders» (2021), dass die Menschheit bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts «Nachhaltigkeit konnte». Die Erinnerungen an Ferien Mitte der 1960er-Jahre bei meiner Grossmutter bestätigen das. Obwohl sie damals weit über 70 Jahre alt gewesen ist, hat sie ihren Garten gepflegt und die Ernte in grünen Bülacher Gläsern sterilisiert. Ausser dem Kühlschrank ist mir in der Küche kein elektrisches Gerät in Erinnerung, gekocht hat sie mit Gas. Bei ihrem Rührgerät, ihrem «Mixer», drehten sich zwei horizontal liegende, raffiniert geschlitzte Scheiben entgegengesetzt, sodass auch mir als Kindergärtler das Schlagen des Rahms, als Beilage zu den Beeren aus dem Garten, über die Handkurbel in Rekordzeit gelungen ist.

Bis zu Grossmutters Generation musste man den Begriff Nachhaltigkeit nicht ständig betonen, vermutlich kannte man ihn auch nicht. Mann und Frau konnten sich nicht anders verhalten, denn der mögliche ökologische Fussabdruck beschränkte sich auf die Verwendung regional wachsender Ressourcen. Der günstige und stetige Import von Gütern ist erst mit neuen technischen Entwicklungen möglich geworden. Zudem wurden die lokalen Ressourcen zuerst zur Selbstsorge benötigt. Die lebenden Systeme im natürlichen Gleichgewicht zu halten und mit ihnen quasi in Symbiose zu leben, ist ein Muss gewesen. Wären sie bis zu ihrem Untergang ausgewunden worden, so wusste man, dass man keinen adäquaten Ersatz hätte einfliegen können.

Interessant ist die Entwicklung der Fischerei am Bodensee als aufrechtzuerhaltende Lebensgrundlage für die Anrainer. Annette Kehnel verweist auf den Trierer Historiker Michael Zeheter, der die 34 verschiedenen Fischereiverordnungen von 1 350 bis 1 774 detailliert analysiert hat. Stets ist auf veränderte Bedingungen reagiert worden. Einige wenige Parameter, also veränderliche Grössen wie die Maschenweite der Netze, sind angepasst worden, unter Gewährung einer Übergangsfrist von einem Jahr. Mir kommt das vor wie der kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP), der in den Normen zur Qualitätssicherung propagiert wird. Somit sind damals schon, wie wir heute sagen würden, kybernetische Erkenntnisse zur Anwendung gelangt, nämlich dass aufgrund der Rückkopplung durch Kommunikation und Beobachtung das Zusammenspiel zwischen dem Bodensee und seiner Fischausbeutung optimiert worden ist. Nicht umsonst wird die in den 1940er-Jahren erstmals genannte Kybernetik als die Kunst des Steuerns bezeichnet. Eine Vielzahl von heute, nicht nur in der digitalen Welt, verwendeten Methoden sind auf die interdisziplinären Macy-Konferenzen zwischen 1946 und 1953 zurückführbar. Die Zusammenhänge zwischen Technik, Biologie, Soziologie, Psychologie, Philosophie und dem beginnenden Computerwesen sind dabei aufgearbeitet worden. Der deutsche Soziologe Dirk Baecker hat für solche mit der Welt verwobenen Systeme den Kunstbegriff «Katjekte» eingeführt. Ich werde später darauf zurückkommen. Annette Kehnel zeigt weitere historische Konzepte auf, seien es die Beginenhöfe in Belgien oder den Niederlanden, auf denen quartiersweise nach dem Prinzip der heute wiederentdeckten «Sharing Economy», Teilungswirtschaft, gelebt worden ist. Auch die Reparaturberufe in Frankfurt und die Secondhand-Märkte in Paris florierten in einer Welt, in der der Begriff Abfall ein Fremdwort gewesen ist. Sind das nicht Aspekte, die unter dem heute stark gepushten Konzept der «Smart Cities» wiederbelebt werden?

Wer also propagiert, Nachhaltigkeit sei neu und die Menschheit müsse sie zuerst lernen, ist komplett auf dem Holzweg. Vielmehr muss sie sich rückbesinnen. Holz wird im nächsten Teil im Mittelpunkt stehen.

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ANMERKUNG
1) Die Kolumne bildet den dritten Teil einer Serie von Kolumnen zum Themenkomplex Digitalisierung und Nachhaltigkeit.